19. April 2021

„Bilder als Denkformen“ – Buchvorstellung und Podiumsdiskussion

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„Bilder als Denkformen“ – Buchvorstellung und Podiumsdiskussion

Am 19. April 2021 stellten Yasuhiro Sakamoto und Felix Jäger den Sammelband „Bilder als Denkformen“ vor, in dem erstmals aktuelle bildwissenschaftliche Perspektiven aus Japan und Deutschland miteinander in Dialog treten.
Im Anschluss folgte eine Podiumsdiskussion zwischen dem Bildwissenschaftler Horst Bredekamp und dem Neurowissenschaftler David Poeppel. Unter dem Titel „Provokation über Bilder“ wurden zentrale Themen der Publikation aufgegriffen – von den neuronalen Grundlagen der visuellen Wahrnehmung bis hin zum Zusammenspiel von Bild- und Naturwissenschaften.

Ausgehend von Bredekamps Beitrag in „Bilder als Denkformen“ eröffnete Poeppel die Diskussion mit dem Thema der Annäherung von Natur und Kunst und ihrer gegenseitigen Assimilation. Schon Torquato Tasso habe im 16. Jahrhundert über die Gärten in Ferrara geschrieben, dass die Kunst die Natur nachahme, die ihrerseits lachend die Kunst nachahme. Aktuell scheine diese Beobachtung durch neue Entwicklungen in der Mikroskopie an Bedeutung zu gewinnen. In diesem Kontext wies Bredekamp auf den Versuch hin, Bilder unterhalb der Lichtschranke zu erzeugen.

Poeppel entgegnete, die Perspektive des Betrachters sei in ihrer Tiefe hingegen noch immer nicht ergründet. Daraufhin lenkte Bredekamp die Diskussion zum Bild zurück: Kommt das Bild dem Betrachter entgegen, oder bringt es einen Moment des Unerklärbaren mit sich, von dem der Betrachter zum Denken angeregt wird? Bredekamp sprach sich für die letztgenannte Analyse aus und stellte Poeppel die Frage nach der neurobiologischen Erklärbarkeit. In Experimenten zur visuellen Wahrnehmung, wie sie auch von Yasuhiro Sakamoto durchgeführt worden seien, habe man herausgefunden, dass es nur 200 ms dauere, bis ein relevanter und bleibender visueller Eindruck entstehe – was aber geschieht davor und danach? Das Konzept des Bildes scheine auf dieser untersten Ebene keine Anwendung zu finden; ergo sei es treffender, hier von „Bildern“ (Plural) oder „Impulsen“ zu sprechen.

Bredekamp erwähnte in diesem Zusammenhang Leibniz’ petites perceptions: Schon in den kleinsten Impulsen, die dem Begriffsapparat noch gar nicht zugänglich seien, laufe bereits ein Erkenntnisprozess ab, der für ein Verständnis der Zusammensetzung des Kosmos unabdingbar sei; der Mensch erkenne selbst dann, wenn er die sinnlichen Impulse gar nicht bewusst wahrnehme. Im bildwissenschaftlichen Kontext sei hier u. a. das Schlagwort coup d’oeil zu nennen. Poeppel betonte, dass man nicht nur sehe, worauf man fokussiere, weshalb bspw. aus Ergebnissen des Eye-Tracking nicht abgeleitet werden könne, dass man auch den Punkt wahrnehme, auf den die Pupille fixiert sei. Bredekamp stellte die These auf, dass das Gehirn da am aktivsten sei, wo es am unsichersten ist, also am wenigstens fokussiert. Poeppel bekräftigte dies: Die neuronale Antwort sei dort am größten, wo die Reize oder die Konfiguration von Informationen am überraschendsten seien (Shannons Konzept des Surprisal).

Anschließend folgte eine Diskussion über die Frage, ob die Bildwissenschaften in die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften integriert werden sollten, wie Bredekamp es vorgeschlagen habe. Obwohl sie es sich in der Regel nicht eingeständen, arbeiteten die Naturwissenschaften fortwährend mit Bildern; Phänomene wie Big Data seien ohne Visualisierung nicht zu verstehen. Bilder und Diagramme erforderten jedoch Reflexion, da sie nie unmittelbar seien, vielmehr ihre eigene Geschichte besäßen. Ohne Reflexion bestehe die Gefahr der Selbsttäuschung, wie im Falle der Doppelhelix, deren Schönheit verschleiert habe, dass die Wirklichkeit die Darstellung an Komplexität übertreffe. Ein Extremfall stelle die Visualisierung von Schwarzen Löchern dar: Dieser Widerspruch in sich verdeutliche, wie hochgradig artifiziell Bilder seien, was auch für bildgebende Verfahren wie Hirnscans gelte, so Poeppel. Vereinfachung sei zweifelsfrei notwendig, man müsse aber immer hinterfragen, wie man vereinfache.

Zum Abschluss gingen Poeppel und Bredekamp auf Beiträge aus dem Publikum ein. Ausgehend von der Frage, ob die STED-Mikroskopie den neurowissenschaftlichen Erkenntnisgewinn vorantreibe, antwortete Poeppel, dass dies zwar der Fall sei, mit dem Fortschritt in der zeitlichen und räumlichen Auflösung aber nicht zwangsläufig ein Fortschritt der konzeptuellen Auflösung einhergehe. Auch mit dem nicht zu bestreitenden technischen Fortschritt gäben sich die Erklärungen noch immer nicht von selbst.

Bredekamp erläuterte, dass Bilder zwar keinen Hegemonialstatus besäßen. Das Bild laufe aber im Gegensatz zur Sprache nicht in der Zeit ab und sei in dieser Hinsicht schlicht schneller. Nach einem Exkurs über den Erkenntniswert der Verkörperungsphilosophie, den Bredekamp gegenüber Zweifeln von Poeppels Seite verteidigte, folgten kurze Beiträge der Herausgeber von „Bilder als Denkformen“. Jäger fragte nach der konkreten Stelle, an der die kulturelle Prägung auf den Wahrnehmungsprozess einwirke; Sakamoto wies auf eine Studie hin, nach der Europäer bei einem Gemälde eher die Menschen, Japaner hingegen die Landschaft betrachteten. Die Diskutanden stellten heraus, dass es bei der Analyse von Wahrnehmung über kulturelle Grenzen hinweg gar nicht so sehr die Unterschiede, sondern vielmehr die interpretierte Invarianz sei, die Anlass zu Verwunderung gebe.