Klopfen, Klatschen, Tanzen: Die genetische Architektur des Taktgefühls
Der Beat läuft und wir wippen mit – fast automatisch. Liegt es etwa in unseren Genen, dass wir uns im Rhythmus der Musik bewegen? Dieser Frage hat sich ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Vanderbilt University in Nashville, USA, und des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main gewidmet. Die Ergebnisse der umfangreichen Studie mit mehr als 600.000 Forschungsteilnehmer:innen wurden kürzlich als Open-Access-Artikel im Fachmagazin Nature Human Behaviour veröffentlicht.
An der Studie beteiligt waren Wissenschaftler:innen von zehn Forschungsinstituten aus sechs Ländern. Das interdisziplinäre Team bestand aus Expert:innen für komplexe Genetik, Musikkognition, Evolutionsbiologie, Evolution, Musik- und Neurowissenschaften*. Gemeinsam mit dem Biotechnologieunternehmen 23andMe, Inc. (Sunnyvale, USA) realisierten sie die erste groß angelegte genomweite Assoziationsstudie zu einem musikalischen Merkmal.
Insgesamt 606.825 Forschungsteilnehmer:innen gaben Auskunft darüber, ob sie im Takt eines musikalischen Beats klatschen können. Zur Überprüfung der Zuverlässigkeit dieser Selbstauskunft führten die Wissenschaftler:innen unter der Leitung von Nori Jacoby vom MPIEA eine Reihe von Online-Experimenten durch. Hierfür nutzten sie bei einer kleineren, separaten Gruppe von Studienteilnehmer:innen eine neue Technologie zur Online-Messung von Klopfreaktionen in Echtzeit („REPP“): Während die Teilnehmer:innen an ihren Computern zu Hause Musik hörten, zeichnete das Team ihre Klopfreaktionen mit dem Computermikrofon auf und ermittelte genau, wann sie im Verhältnis zum musikalischen Takt klopften.
„Die menschliche Fähigkeit, sich synchron zum Takt der Musik zu bewegen, bezeichnet man als Taktsynchronisation. Unsere Validierungs-Experimente ergaben, dass die Selbsteinschätzung der Teilnehmer:innen mit der objektiv gemessenen Taktsynchronisation übereinstimmten. Die aus der großen Stichprobe gewonnenen Daten waren also zuverlässig – auch, wenn hier nur eine einzige Frage bewertet wurde“, erklärt Jacoby.
Der umfangreiche Forschungsdatensatz bot den Wissenschaftler:innen die Gelegenheit, selbst kleine genetische Merkmale zu erfassen. So konnte das Team 69 unabhängige genetische Varianten identifizieren, die mit der Taktsynchronisation in Verbindung stehen. Damit war klar: Das Rhythmusgefühl wird nicht nur von einem einzigen Gen, sondern von vielen verschiedenen Genen beeinflusst.
Viele der Varianten befinden sich in oder in der Nähe von Genen, die an neuronalen Funktionen und der frühen Gehirnentwicklung beteiligt sind. Darüber hinaus ergab die Studie, dass die Taktsynchronisation einige der gleichen genetischen Strukturen aufweist, die auch bei biologischen Rhythmen wie Gehen oder Atmen eine Rolle spielen. Zudem fanden die Forscher:innen Zusammenhänge mit einer Reihe von Merkmalen, die auch mit dem Altern zusammenhängen, wie Lungenfunktion oder Motorik.
„Wie auch bei anderen komplexen Merkmalen gibt es hier viele Gene mit geringer Auswirkung – wahrscheinlich sogar mehr, als wir identifizieren konnten. Zusammen erklären sie einen Teil der Unterschiede bei der Rhythmusfähigkeit der Menschen. Doch auch die Umwelt spielt eine entscheidende Rolle“, berichtet Miriam A. Mosing vom MPIEA.
Die Erkenntnisse aus dieser Studie sind ein großer Fortschritt für das wissenschaftliche Verständnis der Verbindungen zwischen menschlichem Genom und Musikalität. Allerdings lassen sie keine deterministischen Rückschlüsse zu.
Um sicherzustellen, dass die Ergebnisse auf verantwortungsvolle Weise interpretiert werden, haben die Autor:innen gemeinsam mit weiteren Mitarbeiter:innen ein Begleitpapier veröffentlicht, in dem die gesellschaftlichen und ethischen Auswirkungen, Risiken und Möglichkeiten dieser Studie erörtert werden (https://psyarxiv.com/dyn6e/).
Die Arbeit wurde zum Teil durch einen NIH Director’s New Innovator Award (#DP2HD098859) unterstützt.
* Erstautorin der Studie ist Maria Niarchou (1). Als Seniorautor:innen haben Lea K. Davis (1, 2), Nori Jacoby (3) und Reyna L. Gordon (1, 2) die Arbeit gemeinsam betreut.
Vollständige Liste der Autor:innen:
Maria Niarchou (1), Daniel E. Gustavson (1), J. Fah Sathirapongsasuti (4), Manuel Anglada-Tort (3), Else Eising (5), Eamonn Bell (6, 7), Evonne McArthur (1), Peter Straub (1), 23andMe Research Team (4), J. Devin McAuley (8), John A. Capra (9), Fredrik Ullén (3, 10), Nicole Creanza (2), Miriam A. Mosing (3, 10, 11), David A. Hinds (4), Lea K. Davis (1, 2), Nori Jacoby (3), and Reyna L. Gordon (1, 2)
1: Vanderbilt University Medical Center, Nashville, TN, USA; 2: Vanderbilt University, Nashville, TN, USA; 3: Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main, Deutschland; 4: 23andMe, Inc, Sunnyvale, CA, USA; 5: Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen, Niederlande; 6: Columbia University, New York, NY, USA; 7: Durham University, Durham, UK; 8: Michigan State University, East Lansing, MI, USA; 9: University of California, San Francisco, CA, USA; 10: Karolinska Institutet, Solna, Schweden; 11: University of Melbourne, Melbourne, Victoria, Australien
Originalpublikation:
Niarchou, M., Gustavson, D. E., Sathirapongsasuti, J. F., Anglada-Tort, M., Eising, E., Bell, E., McArthur, E., Straub, P., 23andMe Research Team, McAuley, J. D., Capra, J. A., Ullén, F. U., Creanza, N., Mosing, M. A., Hinds, D. A., Davis, L. K., Jacoby, N., & Gordon, R. L. (2022). Genome-Wide Association Study of Musical Beat Synchronization Demonstrates High Polygenicity. Nature Human Behaviour. Advance online publication. doi:10.1038/s41562-022-01359-x
Wissenschaftliche Ansprechpartner:innen:
Nori Jacoby
Manuel Anglada-Tort
Fredrik Ullén
Miriam A. Mosing