Ästhetisches Erleben von Musik: Dimensionen, Qualitäten und Messbarkeit
Ob überhaupt und wenn ja, wie das ästhetische Erleben von Musik sinnvoll gemessen werden kann und welche Art von Erkenntnisgewinn solche Messungen erlauben, ist die wohl kontroverseste Frage in Bezug auf die empirische Ästhetik. Zwischen philosophischen Konzepten und literarisierten oder autobiographischen Beschreibungen ästhetischer Erfahrungen einerseits und typischen empirischen Messungen andererseits scheint sich ein fast unüberbrückbarer Graben aufzutun.
###
Zwischen diesen beiden Polen zu vermitteln und somit auch die Debatten um die Berechtigung und Möglichkeiten einer empirischen Ästhetik weiterzuführen, sehen wir als eine der herausragenden Chancen und Aufgaben eines transdisziplinären Instituts wie des unseren an. Konzeptuell gehen wir diese Herausforderung an, indem wir ein psychologisches Konstrukt des ästhetischen Erlebens anstreben, das auch den Beschreibungen und Interessen der ästhetischen und geisteswissenschaftlichen Ansätze entgegenkommt. Das heißt für uns v.a. ein Konstrukt, das den phänomenalen, sich zeitlich entfaltenden Zustand des ästhetischen Erlebens selbst in den Mittelpunkt stellt und nicht primär seine Outputs (Liking, induced emotion) oder dessen Korrelate (etwa psychophysisches Arousal als Korrelat des Mögens). Zugleich forschen wir auch auf Grundlage einer großen Vielfalt an historischen und zeitgenössischen Textdokumenten musikalischen Erlebens.
Forschungsprojekte
Zum Unterschied des wahrgenommenen musikalischen Ausdrucks und des ausgelösten Gefühls beim Musikhören
In diesem Projekt untersuchen wir die physiologischen und neuronalen Korrelate des wahrgenommenen musikalischen Ausdrucks und des ausgelösten Gefühls beim Musikhören im Vergleich zueinander. Die Annahme, dass diese beiden Phänomene kongruent seien, stellte seit der Begründung dieses Diskurses durch Platon und Aristoteles eines der Fundamente der Musikästhetik und -pädagogik dar.
Disliked Music
In westlichen Kulturen ist der Musikgeschmack als eine Einstellung oder verfestigte Meinung zu Musik ein wichtiger Faktor des Selbstkonzeptes und der Selbstwahrnehmung. Als affektives und expressives Medium dient Musik dabei nicht nur der Befriedigung emotionaler und sozialer Bedürfnisse, sondern ist in seiner individuellen Ausprägung von gemochter oder abgelehnter Musik auch ein Mittel zur Konstruktion und Bestätigung der eigenen Identität.
Musikalische Schlüsselerlebnisse
Die Herausbildung des persönlichen Musikgeschmacks wird meist als ein langfristiger Prozess der Enkulturation und Sozialisation beschrieben. Doch berichten Personen auch immer wieder von herausragenden Einzelereignissen, die ihren Musikgeschmack grundlegend verändert, erweitert oder umorientiert haben.
Musik und Eyetracking
Untersuchungen der Blickposition, der Pupille und des Blinzelns sind wichtig, um Aufmerksamkeitsprozesse im visuellen Bereich zu verstehen. So ist beispielsweise seit langem bekannt, dass die visuell-räumliche Aufmerksamkeit stark mit dem Blick gekoppelt ist (bei verdeckter Aufmerksamkeit kann sie jedoch entkoppelt werden). Es gibt inzwischen Belege dafür, dass die Messung von Augenparametern auch für das Verständnis der auditiven Verarbeitung nützlich sein kann, obwohl sich die wichtigsten Rezeptoren für die auditive Verarbeitung im Ohr befinden.
Formenlehren und Formverstehen von Musik
Die Form eines Musikstückes gilt seit dem 18. Jahrhundert als zentrale Kategorie für die Bewertung von Kompositionen. Die „Formenlehre“ hat sich über die Kompositionslehre hinaus zu einem eigenständigen Fach entwickelt. In dieser Disziplin wird nicht nur die Anordnung musikalischen Materials verhandelt, sondern auch deren Bedeutung für den Hörer.
Abgeschlossene Projekte
Schöne Stellen in Musik
Werden wir nach der Musik gefragt, die uns besonders berührt oder gefällt, und versuchen wir dies zu beschreiben, so taucht dabei sehr wahrscheinlich das Wort „schön“ auf. Wollen wir in aller Knappheit begründen, warum gerade dieses oder jenes uns begeistert, mag es als Antwort sogar genügen. Aber was kann damit gemeint sein? Wo liegt das Schöne in der Musik?
Ästhetische Absorption
Im Kontext der Rezeption von Kunst bezeichnet Absorption einen Zustand des gänzlichen Aufgehens in der Kunstrezeption und wird subjektiv typischerweise als eine besonders intensive und lustvolle Form des ästhetischen Erlebens beurteilt. Wir untersuchen ästhetische Absorption mittels zweier Ansätze...
Die Lust an Neuer Musik
In diesem Projekt wird untersucht, welche Mechanismen hinter der Wertschätzung von Neuer und zeitgenössischer Musik stecken. Da es sich bei diesem Stil oftmals um Musik handelt, die viel Dissonanz enthält, oft atonal ist und der kein regelmäßigen Metrum zugrunde liegt, stellt sie vor allem für ungeübte Hörer eine Herausforderung dar.
Publikationen
Merrill, J., & Niedecken, T. (2023). Music and Boredom: A First Insight Into an Unexplored Relationship. Music & Science, 6.doi:10.1177/20592043231181215
Merrill, J., Ackermann, T.-I., & Czepiel, A. (2023). Effects of disliked music on psychophysiology. Scientific Reports,13: 20641. doi:10.1038/s41598-023-46963-7
Lange, E. B., & Fink, L.K. (2023). Eye blinking, musical processing, and subjective states—A methods account. Psychophysiology, e14350. https://doi.org/10.1111/psyp.14350
Fink, L., Simola, J., Tavano, A., Lange, E., Wallot, S., & Laeng, B. (2023). From pre-processing to advanced dynamic modeling of pupil data. Behavioral Research Methods.https://doi.org/10.3758/s13428-023-02098-1
Mencke, I., Omigie, D., Quiroga-Martinez, D. R., & Brattico, E. (2022). Atonal Music as a Model for Investigating Exploratory Behavior. Frontiers in Neuroscience 16. doi:10.3389/fnins.2022.793163
Mencke I, Seibert C, Brattico E, Wald-Fuhrmann M. (2022). Comparing the aesthetic experience of classic–romantic and contemporary classical music: An interview study. Psychology of Music. June 2022. Advance online publication. doi:10.1177/03057356221091312
Vroegh, T. P., Wiesmann, S. L., Henschke, S., & Lange, E. B. (2021). Manual motor reaction while being absorbed into popular music. Consciousness and Cognition, 89: 103088. doi:10.1016/j.concog.2021.103088.
Lange, E. B., Thiele, D., & Kuijpers, M. M. (2020). Narrative aesthetic absorption in audiobooks is predicted by blink rate and acoustic features. Psychology of Aesthetics, Creativity and the Arts. Advance online publication. doi: 10.1037/aca0000321
Merrill, J., & Ackermann, T. (2020). “Like static noise in a beautiful landscape”: A mixed-methods approach to rationales and features of disliked voices in popular music (Advance online publication). Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts.doi:10.1037/aca0000376.
Hamilton, A., & Pearson, L. (Eds.). (2020). The aesthetics of imperfection in music and the arts: Spontaneity, flaws and the unfinished. London: Bloomsbury Academic.
Grüny, C. (2020). Grenzen des Rationalen: Klang und Theorie. In B. Giesecke von Bergh, & V. Helbing (Eds.), ›Klang‹. Wundertüte oder Stiefkind der Musiktheorie: 16. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) (pp. 15-35). doi:10.31751/p.1.
###
Roeske, T. C., Larrouy-Maestri, P., Sakamoto, Y., & Poeppel, D. (2020). Listening to birdsong reveals basic features of rate perception and aesthetic judgements. Proceedings of the Royal Society of London. Series B: Biological Sciences (London), 287(1923): 20193010. doi:10.1098/rspb.2019.3010.
Schlotz, W., Wallot, S., Omigie, D., Masucci, M. D., Hoelzmann, S. C., & Vessel, E. A. (2020). The Aesthetic Responsiveness Assessment (AReA): A screening tool to assess individual differences in responsiveness to art in English and German (Online First Posting). Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts. doi:10.1037/aca0000348
Wald-Fuhrmann, M. (2020). Musik und Melancholie. Mit einer Anwendung auf Händels L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Göttinger Händel-Beiträge: Jahrbuch/Yearbook 2020, 21, 7-32.
Omigie, D., Lehongre, K., Navarro, V., Adam, C., & Samson, S. (2020). Neuro-oscillatory tracking of low- and high-level musico-acoustic features during naturalistic music listening: Insights from an intracranial electroencephalography study. Psychomusicology, 30(1), 37-51. doi:10.1037/pmu0000249.
Omigie, D., Frieler, K., Bär, C., Muralikrishnan, R., Wald-Fuhrmann, M., & Fischinger, T. (2019). Experiencing musical beauty: Emotional subtypes and their physiological and musico-acoustic correlates. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts. Advance online publication. doi:10.1037/aca0000271
Merrill, J. (2019). Stimmen – schön schrecklich oder schrecklich schön?: Beschreibung, Bewertung und Wirkung des vokalen Ausdrucks in der Musik. Kassel: Kassel University Press. doi:10.19211/KUP9783737650878.
Ackermann, T. (2019). Disliked music: Merkmale, Gründe und Funktionen abgelehnter Musik (PhD Thesis, kassel university press, Kassel, 2019). doi:10.19211/KUP9783737650885.
Vroegh, T. P. (2019). Zoning-in or tuning-in? Identifying distinct absorption states in response to music. Psychomusicology: Music, Mind, and Brain, 29(2-3), 156-170. doi:10.1037/pmu0000241.
Mencke, I., Omigie, D., Wald-Fuhrmann, M., & Brattico, E. (2019). Atonal Music: Can Uncertainty Lead to Pleasure? Frontiers in Neuroscience, 12, 979. doi:10.3389/fnins.2018.00979/full
Omigie, D., Pearce, M., Lehongre, K., Hasboun, D., Navarro, V., Adam, C., & Samson, S. (2019). Intracranial recordings and computational modeling of music reveal the time course of prediction error signaling in frontal and temporal cortices. Journal of Cognitive Neuroscience, 31(6), 855-873. doi:10.1162/jocn_a_01388.
Akkermans, J., Schapiro, R., Mullensiefen, D., Jakubowski, K., Shanahan, D., Baker, D., Busch, V., Lothwesen, K., Elvers, P., Fischinger, T., Schlemmer, K., & Frieler, K. (2019). Decoding emotions in expressive music performances: A multi-lab replication and extension study. Cognition & Emotion, 33(6), 1099-1118. doi:10.1080/02699931.2018.1541312.
Fink, L., Lange, E.B., & Janata, P. (2018).The pupil entrains to prominent periodicities in music. 15th International Conference on Music Perception and Cognition (ICMPC), Graz, Austria.
Elvers, P., Fischinger, T., & Steffens, J. (2018). Music listening as self-enhancement: Effects of empowering music on momentary explicit and implicit self-esteem. Psychology of Music, 46(3), 307-325. doi:10.1177/0305735617707354.
Fink, L. K., Lange, E. B., & Groner, R. (2018). The application of eye-tracking in music research. Journal of Eye Movement Research, 11(2): 1. doi:10.16910/jemr.11.2.1.
Lange, E. B., & Frieler, K. (2018). Challenges and opportunities of predicting musical emotions with perceptual and automatized features. Music Perception, 36(2), 217-242. doi:10.1525/MP.2018.36.2.217.
Vroegh, T. P. (2018). The pleasures of getting into the music: Absorption, and its role in the aesthetic appreciation of music. PhD Thesis, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt.
Kuijpers, M.& Lange, E.B. (2017). Experiencing audiobooks: The effects of microsaccade and blink rate 19th European Conference on Eye Movements (ECEM), Wuppertal, Germany.
Wiesecke, J. (2017). Samuel Pepys and his experiences of music at Restoration theatres. In H. Barlow, & D. Rowland (Eds.), Listening to music: People, practices and experiences. Retrieved from http://ledbooks.org/proceedings2017/#sec_245_h1
Lange, E.B., Zweck, F., & Sinn, P. (2017). Microsaccade-rate indicates absorption by music listening. Consciousness and Cognition, 55, 59-78.doi:10.1016/j.concog.2017.07.009
Frieler, K., & Lange, E. B. (2017). Chancen und Risiken des Computereinsatzes in der Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, 27, 187-191.
Kaufmann, M. (2017). Tränen und Drama: Domenico Mazzocchis musikalische Inszenierung der Klage. Die Tonkunst: Magazin für klassische Musik und Musikwissenschaft, 11(2), 185-195.
Wald-Fuhrmann, M. (2017). Ursprungsmythen als Wesensbestimmungen in der Musik. In S. Wegner (Ed.), Über den Ursprung von Musik: Mythen, Legenden und Geschichtsschreibungen (pp. 39-48). Würzburg: Königshausen & Neumann.
Steffens, J., Greb, F., & Schlotz, W. (2016). Why listen to music right now?: Towards an inventory measuring the functions of music listening under situational influences. In Proceedings of the 14th International Conference on Music Perception and Cognition (pp. 842).
Omigie, D. (2016). Basic, specific, mechanistic? Conceptualizing musical emotions in the brain. Journal of Comparative Neurology. Special Issue: Brain Circuits of Positive Emotions, 524(8), 1676-1686. doi:10.1002/cne.23854.
Lindau, A., Seibert, C., Greb, F., & Wald-Fuhrmann, M. (2016). The ArtLab of the Max Plank Institute for Empirical Aesthetics: Technical conception and envisaged research questions. In M. Vorländer, & J. Fels (Eds.), Fortschritte der Akustik: Tagungsband der 42. Jahrestagung für Akustik DAGA.
Seibert, C. (2016). Musik und Affektivität: Systemtheoretische Perspektiven für eine transdisziplinäre Musikforschung. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Omigie, D., Dellacherie, D., Hasboun, D., Clément, S., Baulac, M., Adam, C., & Samson, S. (2015). Intracranial markers of emotional valence processing and judgments in music. Cognitive Neuroscience, 6(1), 16-23. doi:10.1080/17588928.2014.988131.
Bär, C. (2014). Verbalization of music and sound between poeticity and aesthetic evaluation. In A. Kozbelt (Ed.), Proceedings of the Twenty-third Biennial Congress of the International Association of Empirical Aesthetics (pp. 78-84).
Wald-Fuhrmann, M. (2013). Musik und Subjektivität. In M. Calella, & N. Urbanek (Eds.), Historische Musikwissenschaft: Grundlagen und Perspektiven (pp. 289-306). Stuttgart: J. B. Metzler.