
Formenlehren und Formverstehen von Musik
Musikalische Formtheorien im Verhältnis zu Form-Wahrnehmung und -Verstehen von Musik
Die Form eines Musikstückes gilt seit dem 18. Jahrhundert als zentrale Kategorie für die Bewertung von Kompositionen. Die „Formenlehre“ hat sich über die Kompositionslehre hinaus zu einem eigenständigen Fach entwickelt. In dieser Disziplin wird nicht nur die Anordnung musikalischen Materials verhandelt, sondern auch deren Bedeutung für den Hörer. Im vielfältigen Diskurs der Formenlehre werden Analysemethoden und Regeln formuliert, nach denen die Form (und damit das Musikstück an sich) wahrgenommen werden sollen. Viele dieser Annahmen stehen allerdings im Widerspruch zu Erkenntnissen der empirischen Musikforschung.
Für den Rezipienten scheint beim Musikhören die größere Form beispielsweise eines Sonatensatzes keine Rolle zu spielen (Cook 1987). Im Vergleich bemerken sogar Berufsmusiker formale „Fehler“ in Musikstücken nur unwesentlich besser als Hörer mit fehlender Vorerfahrung im betreffenden Stil. Auch aus der Kognitionspsychologie ist bekannt, dass Hörer wenig Bewusstsein für formale Zusammenhänge in einem längeren Zeitraum an den Tag legen (Tillmann & Bigand 1996, 2004). Im Gegensatz zu diesen Erkenntnissen stehen Analysemethoden und eine verbreitete Unterrichtspraxis, die die strukturelle und formale Geschlossenheit eines Werkes wie z.B. einer Sinfonie als wichtigstes Merkmal in den Vordergrund stellen. Diese Praxis fußt nicht zuletzt darauf, dass im Kontext einer Interpretation eine vorausgehende Analyse große Bedeutung zugeschrieben wird.
In diesem Projekt untersuchen wir, in welchem Verhältnis ein individuelles Formverständnis, beispielsweise das eines Interpreten, und Kategorien gängiger Formenlehren stehen. Es ist anzunehmen, dass gerade das individuelle Formverständnis ein wichtiger Faktor für die Intensität des Hör- und Interpretationserlebnisses ist. Jeder Hörer, jede Interpretin legt sich anhand seiner oder ihrer Möglichkeiten und Veranlagung ganz individuelle Strategien für die Wahrnehmung von Form zurecht.
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