Poetische Lizenzen
Dieses Forschungsprojekt untersucht Verarbeitungseffekte sprachlicher Abweichungen in lyrischen Texten und insbesondere deren Beitrag zur ästhetischen Bewertung. Lyrik ist als Dichtungsart so sehr von formalen und semantisch-konzeptuellen Eigenheiten des Sprachgebrauchs geprägt, dass formalistische Ansätze zur Erfassung von Dichtersprache häufig die Normabweichung bzw. Erwartungsverletzung als definierendes Merkmal des poetischen Sprachgebrauchs identifizierten (Mukarovsky, 1932; Shklovsky, 1916). Roman Jakobson (1960) konzeptualisierte das Besondere poetischer Sprache dagegen weniger als negativ verletzte Erwartung denn als positive Überbietung linguistischer Regelerwartungen kraft der Hypertrophierung parallelistischer, d.h. rekursiver Strukturen.
Mittels psycholinguistischer Messverfahren untersuchen wir, wie sprachliche Abweichung (Überraschung) und Rekurrenz (Vorhersagbarkeit) in der Verarbeitung poetischer Sprache zusammenwirken. Im Fokus stehen dabei morphosyntaktische Devianzen wie nicht-kanonische und ungrammatische Wortstellungsvarianten oder morphologische Archaismen und ihre Interaktion mit den formalen Schemata Reim und Metrum. Darüber hinaus untersuchen wir, welche Rolle die Erwartungen des Lesers an den Text in der Verarbeitung poetischer Sprache spielen.