Rhythmusvielfalt: Verschiedene Kulturen bevorzugen unterschiedliche Taktmuster
Der folgende Text basiert auf einem Artikel, der bei MIT News erschienen ist:
Exposure to different kinds of music influences how the brain interprets rhythm
A study of people in 15 countries reveals that while everyone favors rhythms with simple integer ratios, biases can vary quite a bit across societies.
(Anne Trafton, MIT News Office)
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Das menschliche Gehirn scheint darauf ausgerichtet zu sein, musikalische Rhythmen zu hören und zu produzieren, die aus einfachen ganzzahligen Verhältnissen bestehen (beispielsweise 1:1:1). Diese Verhältnisse können jedoch interkulturell stark variieren, wie eine groß angelegte Studie mit 39 Personengruppen aus 15 Ländern zeigt. Geleitet wurde die Studie von Forscher:innen des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main und des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge/MA, USA. In Zusammenarbeit mit 34 Forscher:innen aus aller Welt veröffentlichten sie ihre Ergebnisse jüngst im Fachmagazin Nature Human Behaviour.
Das Team testete sowohl die Reaktionen von Menschen aus urbanen Umfeldern in persönlichen Sitzungen oder online, als auch die indigener Bevölkerungsgruppen. Viele der Studienteilnehmer:innen stammten aus Gesellschaften, deren traditionelle Musik rhythmische Muster enthält, die in der westlichen Musik nicht vorkommen. Dennoch zeigten sich über alle Gruppen hinweg ähnliche Muster:
„Alle teilnehmenden Gruppen hatten eine Vorliebe für ganzzahlige Verhältnisse. Damit liefert unsere Studie einen klaren Beweis für eine gewisse Universalität in der musikalischen Wahrnehmung und Kognition“, berichtet Erstautor Nori Jacoby vom MPIEA. „Gleichzeitig geben uns die Ergebnisse aber auch einen Einblick in die Unterschiede, die zwischen verschiedenen Kulturen auftreten und durchaus signifikant sein können.“
Die Forscher:innen gehen davon aus, dass sich die Vorliebe des Gehirns für einfache ganzzahlige Verhältnisse als ein natürliches Fehlerkorrektursystem entwickelt hat, das es erleichtert, zusammenhängende Musikstücke zu bewahren und weiterzugeben.
„Wenn Menschen Musik machen, unterlaufen ihnen oft kleine Fehler. Unsere Ergebnisse stützen die Annahme, dass unsere mentale Repräsentation in gewisser Weise robust gegenüber diesen Fehlern ist – in dem Sinne, dass sie sich an unseren bereits vorhandenen Vorstellungen davon orientiert, welche Strukturen in der Musik zu finden sein sollten“, erklärt Seniorautor Josh McDermott vom MIT.
Interkulturelle Vergleiche
Die Arbeit baut auf einer früheren Studie auf, die Jacoby und McDermott 2017 veröffentlicht haben. Darin verglichen sie die Rhythmuswahrnehmung von Studienteilnehmer:innen aus den USA und von Teilnehmer:innen der Tsimane, einer indigenen Bevölkerungsgruppe im bolivianischen Amazonas-Regenwald: Das Team spielte ihnen eine zufällige Abfolge von vier Schlägen vor und bat sie, das Gehörte nachzuspielen. Dann spielten sie ihnen den erzeugten Rhythmus erneut vor, und die Teilnehmer:innen klopften ihn wiederum nach. Nach mehreren Wiederholungen wurden die geklopften Sequenzen schließlich von den Rhythmuserwartungen der Studienteilnehmer:innen dominiert.
Das Forschungsteam fand heraus, dass sowohl die US-amerikanischen Studienteilnehmer:innen als auch die Tsimane Rhythmen mit einfachen ganzzahligen Verhältnissen produzierten – mit einem Unterschied: Die meisten Rhythmen, die von den US-amerikanischen Teilnehmer:innen erzeugt wurden, waren in der westlichen Musik weit verbreitet. Die von den Tsimane bevorzugten Verhältnisse waren jedoch anders und schienen mit denen übereinzustimmen, die in den wenigen existierenden Aufnahmen von Tsimane-Musik dokumentiert sind.
„Dieses Ergebnis lieferte erste Hinweise darauf, dass kleine ganzzahlige Verhältnisse im Allgemeinen bevorzugt werden, dabei aber interkulturelle Variationen möglich sind. Allerdings hatten wir nur zwei kulturell unterschiedliche Gruppen untersucht“, berichtet Jacoby.
Um ein breiteres Bild zu erhalten, erweiterte das Forschungsteam den Ansatz: Gemeinsam mit Wissenschaftler:innen aus mehr als zwei Dutzend Partnerinstitutionen weltweit befragten sie über 900 Personen von insgesamt fünf Kontinenten (Nordamerika, Südamerika, Europa, Afrika und Asien).
Globaler Ansatz
„Das ist die erste Studie dieser Art in dieser Größenordnung: Wir haben das gleiche Experiment weltweit an vielen verschiedenen Orten durchgeführt, und zwar mit Menschen, die dort leben“, sagt McDermott.
Dabei achtete das Team darauf, nicht nur Student:innen bzw. Personen aus urbanen Umfeldern einzubeziehen, sondern auch Menschen aus traditionellen Gesellschaften, die schwieriger zu erreichen sind. Dies ist insofern von Bedeutung, als ein Großteil der Forschung in den Bereichen Psychologie und Musikkognition mit Student:innen und Online-Teilnehmer:innen durchgeführt wird. Die Forscher:innen stellten fest: Die Teilnehmer:innen aus den traditionelleren Gruppen unterschieden sich signifikant von Student:innen aus denselben Ländern, sowie von Personen, die in diesen Ländern lebten, jedoch online teilnahmen.
Wie in ihrer ursprünglichen Studie aus dem Jahr 2017 fand das Team heraus, dass die Menschen in allen Gruppen einfache ganzzahlige Rhythmen bevorzugten. Allerdings zeigten nicht alle Gruppen die gleichen Tendenzen. Menschen aus Nordamerika und Westeuropa, die wahrscheinlich durch ähnliche musikalische Einflüsse geprägt waren, neigten eher dazu, Rhythmen mit den gleichen Verhältnissen zu produzieren. Viele andere Gruppen, beispielsweise aus der Türkei, Mali, Bulgarien oder Botswana, zeigten jedoch Tendenzen zu anderen Rhythmen. Die Tendenzen von Student:innen und Online-Teilnehmer:innen unterschieden sich dabei weitaus weniger von westlichen Vorlieben als die der traditionellen Gruppen.
Die Forscher:innen gehen davon aus, dass ihre Ergebnisse einen Mechanismus aufzeigen, den das Gehirn bei der Wahrnehmung und Produktion von Musik nutzt, und planen nun weitere globale Studien zu verschiedenen Aspekten der Musikwahrnehmung.
Das Forschungprojekt wurde finanziert von der James S. McDonnell Foundation, dem National Science and Engineering Research Council, der National Research Foundation, der National Science Foundation, der chilenischen National Research and Development Agency, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Japan Society for the Promotion of Science, dem Keio Global Research Institute, dem Arts and Humanities Research Council, dem Swedish Research Council und dem John Fell Fund.
Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung von MIT News veröffentlicht.
Originalpublikation:
Jacoby, N., Polak, R., Grahn, J., Cameron, D., Lee, K. M., Godoy, R., Undurraga, E. A., Huanca, T., Thalwitzer, T., Doumbia, N., Goldberg, D., Margulis, E., Wong, P. C. M., Jure, L., Rocamora, M., Fujii, S., Savage, P. E., Ajimi, J., Konno, R., Oishi, S., … McDermott, J. H. (2024). Commonality and Variation in Mental Representations of Music Revealed by a Cross-Cultural Comparison of Rhythm Priors in 15 Countries. Nature Human Behaviour. Online advance publication. https://doi.org/10.1038/s41562-023-01800-9