01. Mai 2016

Die Abwesenheit des Geschmacks ist seine Vollendung

Wir begrüßen Frau Yi Chen am Max-Planck Institut für Empirische Ästhetik. Dr. Chen hat an der Fu Dan Universität Shanghai, China promoviert so wie an der Universität von Toronto, Kanada; sie war zuletzt Dozentin an der Viktoria Universität in der Universität Toronto. Sie hat ein Forschungsstipendium für Postdoktoranden der Alexander von Humboldt Stiftung für 24 Monate verliehen bekommen.

Yi Chen: "Für die Ästhetik der Chinesischen Klassik, gilt als die höchste Vollendung des Geschmacks 淡 (dàn) - wörtlich: mild im Geschmack, blass, oder leicht - dies bezeichnet äußerste Einfachheit und tiefste Bedeutung. Doch sind sich Gelehrte seit Jahrtausenden nur darin einig, dass man nicht in Worten ausdrücken kann worin genau diese Qualität besteht. In früheren Arbeiten in Philosophie und vergleichenden Literaturwissenschaften habe ich dies als `täuschende Schlichtheit (deceptive simplicity)´ in der Poetik charakterisiert. Dies öffnet eine Perspektive darauf, dieses Prinzip in seiner Funktion zu beschreiben, statt vorweg zu definieren was es sei. Ausgehend von einem Korpus chinesischer und deutscher Gedichte, etwa von Wang Wei und Paul Celan und gegebenenfalls durch synthetische Texte ergänzt, werde ich Merkmale definieren die einen Text `einfach´ erscheinen lassen und dies der Intuition von Probanden gegenüberstellen. Ich möchte untersuchen ob solche Urteile über die Zeit stabil sind und über mehrfaches Lesen. Ich hoffe, dass moderne statistische Verfahren dazu beitragen können die Mechanismen und Strukturelemente zu definieren die manche Texte nachklingen und sich entfalten lassen. Durch die Entwicklung und Anwendung von Methoden die Chinesische Vorstellung von 淡 (dàn) in einer Analyse über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg zu untersuchen wird meines Wissens Neuland bei der systematischen Beschreibung der Chinesischen Ästhetik beschritten. Eine solchermaßen `verkörperte´ Vorstellung von 淡 (dàn) kann aufzeigen wie sich phänomenologische und empirische Ansätze bei der Beschreibung der immanenten Struktur der Poetizität ergänzen können."