08. April 2021

Hirnforschung – ein Kinderspiel?

Teil eines Gesichtes (Augen und Nase) mit überlagernden Punkten

"Stille Post" mit Bildern: Das visuelle Gedächtnis ist auf klare räumliche Orientierungspunkte ausgerichtet. (Illustration: MPI für empirische Ästhetik)

Wie finden wir uns in unserer Umgebung zurecht? Was passiert im Gehirn, wenn das Auge nicht alle Details in seinem Umfeld erfassen kann? In einer groß angelegten Studie haben Forscher des Frankfurter Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik, der Princeton University und des Stevens Institute of Technology den bisherigen Stand der Forschung hierzu in Teilen widerlegt.

Eine wesentliche Funktion des menschlichen Sehsystems besteht darin, Objekte im Raum zu erkennen und sich in der Umgebung zurechtzufinden. Das visuelle System kann jedoch nicht jedes Detail in seinem Umfeld wahrnehmen. Daher kombiniert es unvollständige sensorische Informationen mit Erfahrungswerten aus der Vergangenheit und zieht so Rückschlüsse auf die Umgebung.

Um diesen Prozess besser nachvollziehen zu können, entwickelte das internationale Forscherteam ein Versuchsmuster, das die Struktur räumlicher Darstellungen im Gehirn in bisher einzigartigen Details offenbart. Mehr als 9.000 Personen nahmen an der Onlinestudie teil, deren Ergebnisse kürzlich in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht wurden.

Der Versuchsaufbau gleicht dem Spiel „Stille Post“ – statt Worten kamen jedoch Bilder zum Einsatz. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden virtuell in Reihen angeordnet und bekamen nacheinander eine einfache Gedächtnisaufgabe gestellt: Sie sollten sich einzelne Punkte in Bildern merken und anschließend die genaue Position dieser Punkte wiedergeben. Die Antwort der ersten Teilnehmerin bzw. des ersten Teilnehmers wurde dann zum Impuls für den oder die nächste in der Reihe. Die kumulierten Abweichungen zum Original ergaben schließlich das detaillierte Bild eines gemeinsamen räumlichen Gedächtnisses. Nori Jacoby vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik erklärt:

„Entgegen früherer Annahmen zeigen die Ergebnisse, dass das Gedächtnis systematisch auf klare räumliche Orientierungspunkte ausgerichtet ist, etwa auf die Eckpunkte eines Objektes. Bisher wurde allgemein angenommen, dass sich das räumliche Gedächtnis an Zentren visueller Szenen orientiert, zum Beispiel an den Massemittelpunkten von Objekten.“

Um die Studie mit möglichst vielen Personen durchführen zu können, arbeiteten die Wissenschaftler mit Crowdsourcing-Plattformen. Dies erwies sich nicht nur aufgrund der großen Personenanzahl als besonders geeignet. Unter Einsatz eines speziell entwickelten Computerprogramms konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer so auch entsprechend miteinander vernetzt und die „Stille Post“ in großem Maßstab umgesetzt werden.

Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass dieser innovative experimentelle Ansatz zu neuen theoretischen Erkenntnissen für prinzipiell jede Form des visuellen Gedächtnisses führen kann.

 

Originalpublikation:
Thomas A. Langlois, Nori Jacoby, Jordan Suchow and Thomas L. Griffiths (2021): Serial Reproduction Reveals the Geometry of Visuospatial Representations. Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) 118(13), e2012938118.
doi: 10.1073/pnas.2012938118

Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Nori Jacoby