10. Juli 2025

Live-Tanzaufführungen synchronisieren Gehirnströme

Ein Mann in einem grauen Anzug und eine Frau mit beigem Anzug schauen synchron nach rechts vorne und strecken die Hände aus. Der Hintergrund ist lila.

Als Seke Chimutengwende und Stephanie McMann von „Detective Work“ Blickkontakt mit dem Publikum herstellten, verstärkte sich die Synchronität in den Gehirnen der Zuschauer. (Foto: Hugo Glendinning)

Einer künstlerischen Darbietung live beizuwohnen, verleiht dem Erlebnis einen besonderen Reiz. Für Melanie Wald-Fuhrmann, Direktorin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main, eröffnete sich damit bereits vor Jahren ein spannendes Forschungsthema. Über eine kürzlich veröffentlichte Studie sagt sie:

„Am MPIEA erforschen wir vor allem das Erleben von Musik – in ganz verschiedenen Kontexten vom Live-Konzert bis zum Hören von Musik in einem Neuroscanner. Dabei untersuchen wir, inwiefern sich diese verschiedenen Kontexte auf das Musik-Erleben auswirken und was es etwa mit dem oft beschworenen so besonderen ‚Zauber der Liveness‘ auf sich hat. Diese Forschungen jetzt durch die Kooperation mit Guido Orgs um die Kunstform Tanz zu erweitern, war für uns eine tolle Gelegenheit, das Phänomen ‚Liveness‘ in einer anderen Bühnenkunst unter die Lupe zu nehmen.“

Pressemeldung

Eine kürzlich in der Fachzeitschrift iScience veröffentlichte Studie legt nahe, dass sich der Zauber von Live-Aufführungen auch in unseren Gehirnen widerspiegeln könnte: Bei einer Live-Aufführung zeitgenössischen Tanzes synchronisierten sich die Gehirnströme der Zuschauer:innen, was auf gemeinschaftliche Fokussierung und Aufmerksamkeit hindeutet. Diese Synchronität zeigte sich jedoch nicht, wenn die Studienteilnehmer:innen dieselbe Aufführung alleine auf Video sahen.

„Wir wollten untersuchen, warum sich Live-Aufführungen so anders anfühlen als das Anschauen einer Aufzeichnung“, berichtet Seniorautor Guido Orgs, Tänzer und Neurowissenschaftler am University College London (UCL) in Großbritannien. „Tanz schien das perfekte Medium dafür zu sein, da er nahezu immer im Hier und Jetzt sowie in einem gemeinsamen Raum erlebt wird.“

Für diese Studie verlegten die Forscher:innen das Labor ins Theater. Die Arbeit ist Teil des NEUROLIVE-Projekts, einer Kollaboration zwischen Wissenschaftler:innen und Künstler:innen der UCL, Goldsmiths, University of London, dem Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik und den Siobhan Davies Studios in London. Gemeinsam untersuchen sie die „Liveness“ – das einzigartige Erlebnis, bei einer Aufführung vor Ort präsent zu sein.

Das Team stattete 59 Zuschauer:innen mit EEG-Kopfsensoren aus und maß deren Hirnwellen während drei Live-Aufführungen von „Detective Work“ – einer zeitgenössischen Tanzperformance, choreografiert von Seke Chimutengwende in Zusammenarbeit mit Tänzerin Stephanie McMann. Anschließend luden sie weitere Teilnehmer:innen ein, sich eine Aufzeichnung desselben Stücks entweder gemeinsam mit anderen im Kino oder allein in einem Labor anzusehen. Ziel war es zu vergleichen, wie sich unterschiedliche Umgebungen auf die Synchronität der Gehirne auswirken.

Bei den Live-Aufführungen zeigte sich Synchronität in den Gehirnen der Zuschauer:innen im Delta-Band – einem Bereich langsamer Gehirnwellenfrequenzen, der typischerweise mit Tagträumen und sozialer Informationsverarbeitung in Verbindung gebracht wird. Die Synchronität war besonders stark, wenn die Darsteller:innen direkten Blickkontakt mit dem Publikum herstellten.

„Frühere Forschung hat Aufmerksamkeit überwiegend mit den schnelleren Alpha-Band-Gehirnwellenfrequenzen in Verbindung gebracht”, erklärt Erstautorin Laura Rai, kognitive Neurowissenschaftlerin am UCL. „In unserer Studie war es jedoch überraschenderweise das Delta-Band,das diekollektive Aufmerksamkeit am besten erfasste.“

Auch ohne Live-Bühne löste die gemeinsame Rezeption der aufgezeichneten Aufführung im Kino eine Synchronität der Gehirne aus. Wenn die Teilnehmer:innen jedoch allein in einem Labor zuschauten, schwächte sich diese Synchronität ab. Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass das gemeinsame Erleben eines Moments mit anderen, also die „soziale Liveness“, genauso wichtig sein könnte wie die Aufführung selbst.

„Die beobachtete Synchronität im Delta-Band verbindet das Erleben von Live-Tanz mit der Vorstellung, dass darstellende Künste stets auch soziale Ausdrucksformen sind“, führt Orgs aus. „Sie werden von Darsteller:innen und einem Publikum geschaffen, die sich zur gleichen Zeit im gleichen Raum befinden.“

Die Forscher:innen untersuchten auch, ob sich Momente vorhersagen lassen, die eine erhöhte Aufmerksamkeit erzielen. So baten sie den Choreografen Chimutengwende, die Szenen zu benennen, die er im Vorfeld als besonders spannend einschätzte. In nahezu jedem von ihm zuvor vorhergesagten Moment erreichte die Synchronität des Publikums ihren Höhepunkt.

„Die Leute betonen oft, wie persönlich und subjektiv Kunst ist, und das trifft in Bezug auf die Interpretation auch vollkommen zu. Aber wenn es um die Aufmerksamkeit geht, haben wir festgestellt, dass die Art und Weise, wie Menschen sich auf Live-Aufführungen einlassen, überraschend vorhersehbar und messbar ist“, sagt Orgs. „Die Künstler:innen wissen im Grunde genau, was sie tun.“

Das Team hofft, mit der Performance und der begleitenden Studie eines Tages auf Welttournee zu gehen, um weitere Daten sammeln und die Ergebnisse in unterschiedlichen Umgebungen überprüfen zu können. Gleichzeitig blicken die Forscher:innen erwartungsvoll auf künftige Entwicklungen in der EEG-Technologie: Die derzeitigen Systeme sind unhandlich, bewegungsempfindlich und erfordern bei größeren Gruppen einen erheblichen Einrichtungsaufwand.

„Live-Auftritte bergen so viel Wissen“, schließt Mitautor Matthias Sperling, der als künstlerischer Leiter und Forscher bei NEUROLIVE tätig ist. „Die Künstler:innen sind ebenso wie das Publikum Expert:innen für das Live-Erlebnis. Diese Forschung eröffnet neue Möglichkeiten, die Geschichten hinter dem Geschehen in dieser vielschichtigen und dynamischen Umgebung zu erzählen – und durch die Wissenschaft einen erweiterten Blick auf das gemeinsame Erleben zu werfen.“

Diese Forschung wurde durch Mittel des Europäischen Forschungsrats im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms „Horizon 2020” der Europäischen Union gefördert.

Quelle: Cell Press

 

Originalpublikation:

Rai, L. A., Lee, H., Becke, E., Trenado, C., Abad-Hernando, S., Sperling, M., Vidaurre, D., Wald-Fuhrmann, M., Richardson, D. C., Ward, J. A., & Orgs, G. (2025). Delta-Band Audience Brain Synchrony Tracks Engagement with Live and Recorded Dance. iScience. Advance online publication. https://doi.org/10.1016/j.isci.2025.112922

Ansprechpartner:innen:

Melanie Wald-Fuhrmann
Guido Orgs


 

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