Neues von Metrum und Reim
Metrisch gestaltete Sprache findet sich nicht allein in der Lyrik, sondern auch in der Sprache kultischer Handlungen und Feste, in der präverbalen Eltern-Kind-Kommunikation, in der Sprache der Werbung, politischen Slogans usw.
Forscher der Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik und kooperierender Institutionen haben nun die erste Studie vorgelegt, die auf der Basis von 60 Gedichtstrophen aus verschiedenen Epochen und von sehr unterschiedlichem Inhalt die subjektive Wahrnehmung von Metrum und Reim mit Gehirnaktivierungen korreliert hat. Die Ergebnisse der Studie, die am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig durchgeführt wurde, zeigen, dass metrische und gereimte Strophen als intensiver affizierend wahrgenommen und demetrisierten und entreimten Versionen ästhetisch vorgezogen werden. Zugleich zeigen EEG-Daten eine erleichterte Prozessierung in den Komponenten N400 und P600. Beide Datensätze zusammen legen eine Interpretation im Sinne der cognitive fluency-Hypothese ästhetischer Wahrnehmung nahe; danach beruht ästhetisches Gefallen oft auf einer ungewohnt eingängigen Wahrnehmung. Als linguistisch optionale, oft kunstvolle Überregulierung ‚normaler‘ Sprache unterstützen sowohl Metrum als auch Reim eine größere perzeptuelle Eingängigkeit der verbalen Gestalt.
Anders als es eine generalisierte cognitive fluency-Hypothese nahelegt, wurden eigenständige fluency-Effekte aber nur für das Metrum gefunden. Obwohl perzeptuell ebenfalls sehr salient, verstärkte der Reim lediglich per Interaktion den fluency-Effekt des Metrums, hatte aber keinen eigenen fluency-Effekt. Diese Asymmetrie von Metrum und Reim-Effekten entspricht einer strukturellen Asymmetrie des Gebrauchs von Metrum und Reim in der Dichtungssprache selbst: in der deutschen wie in vielen anderen Sprachen gibt es metrische Gedichte mit und ohne Reim, aber keine gereimten Gedichte ohne Metrum. Beides zusammen legt die Annahme nahe, dass Endreime primär optionale Verstärker der metrischen Gestalt sind und dass der autonome, mittels EEG messbare Effekt der phonologischen Ähnlichkeit zweier Reimworte bei Abwesenheit des Metrums unter einer kritischen Schwelle bleibt.
Originalpublikation:
Christian Obermeier, Sonja A. Kotz, Sarah Jessen, Tim Raettig, Martin von Koppenfels, Winfried Menninghaus (2016). Aesthetic appreciation of poetry correlates with ease of processing in event-related potentials. Cognitive, Affective, and Behavioral Neuroscience. DOI 10.3758/s13415-015-0396-x
Kontakt:
Prof. Dr. Winfried Menninghaus
Direktor der Abteilung Sprache und Literatur
Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main
+49 69 8300479-101
Prof. Dr. Sonja A. Kotz
ehem. Forschungsgruppenleiterin
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
kotz@cbs.mpg.de